Das Nieme-Projekt

Der Natur ein Stück zurückgeben

Natur bewahren – in dicht besiedelten Industrieländern wie dem unsrigen ein keineswegs einfaches Unterfangen! Denn kaum noch ein Quadratmeter, der nicht einer Nutzung unterliegt. Und der Druck nimmt weiter stetig zu: Tag für Tag verwandeln sich bundesweit durchschnittlich 113 ha freie Landschaft in neue Siedlungs-, Gewerbe- und Verkehrsflächen. Anhaltend die Zuwächse auch beim Verkehrsaufkommen. Nicht einmal die bislang noch unbebauten Freiflächen bleiben verschont. Speziell auf den landwirtschaftlich genutzten Flächen, also auf rd. 47 % des Bundesgebietes, ist der Trend zur weiteren Intensivierung der Bewirtschaftung ungebrochen.

Die Folge: Immer weniger unserer einheimischen Wildtiere und -pflanzen finden noch ausreichende Lebensmöglichkeiten. Selbst früher weit verbreitete Arten kämpfen heute vielerorts um ihr Überleben – ein Abwärtstrend, der sich nicht zuletzt in den Roten Listen wiederspiegelt.

Kein Zweifel – Naturschutzgebiete und Nationalparks, deren Gesamtfläche gerade eben 4 % des Bundesgebietes umfasst, reichen für den Erhalt unserer Artenvielfalt bei weitem nicht aus. Soll dem Artensterben endlich wirksam Einhalt geboten werden, ist es unerlässlich, der Natur mitsamt ihren Lebewesen wieder mehr Raum zu geben, wo immer sich die Chance dazu bietet. Wie etwa im Gebiet der Nieme, einem kleinen Mittelgebirgsbach im Landkreis Göttingen ...

Die Nieme – ein Kurzportait

Im Verhältnis zum weitläufigen Flussgebiet der Weser, das mit einer Gesamtlänge von 744 km und einem Einzugsgebiet von 41.094 km² weite Teile Norddeutschlands erfasst, erscheint das Niemegebiet eher unbedeutend.

Die Nieme – Daten und Fakten
Lage Lkr. Göttingen
Flussgebietssystem Weser
Länge ca. 12,4 km
Einzugsgebiet 41 km²
Quellgebiet nördl. Bühren
Mündung Bursfelde
Quellhöhe 302 m üb. NN
Mündungshöhe 109 m üb. NN
Höhenunterschied 193 m
durchschn. Gefälle 15,6 ‰
Maximale Breite 6,5 m

Nebengewässer der Nieme

Das Landschaftsbild des Niemetales wird nicht alleine nur durch die hügelige Morphologie des Geländes und die angrenzenden Wälder, sondern im wesentlichen Maße auch durch die 11 Zuflüsse geprägt, die das weitläufige Gewässersystem der Nieme speisen.
Gemeinsam bilden sie ein weit verzweigtes Gewässernetz (s. u., Gewässernetz), durch das ein Einzugsraum von rund 41 km² abgedeckt wird.

Zuflüsse der Nieme
  • Buirke
  • Habichtsbach
  • Krummeke
  • Kuhgraben
  • Nordbach
  • Quarmke
  • Rehbach
  • Steimke
  • Valenke
  • Vöhre
  • Wesperke

Die Nieme – Gewässer am Scheideweg

Noch vor nicht langer Zeit unterschied sich auch die Nieme, ein Mittelgebirgsbach II. Ordnung im Landkreis Göttingen und Nebengewässer der Weser, auf weiten Strecken kaum von jenem Bild, das die Mehrzahl unserer heimischen Quellen, Bäche und Flüsse noch heute weithin bietet:
Getrieben von dem Streben, die Naturgewalten dauerhaft zu zähmen und die Landschaft nach seinen eigenen Bedürfnissen umzugestalten, hatte der Mensch wie anderenorts auch hier tiefgreifend in das gewachsene Naturgefüge eingegriffen und dabei den ursprünglichen Charakter der Fließgewässer nachhaltig verändert. Vollzog sich der Prozess der „Urbarmachung“ der Landschaft über lange Zeiträume zunächst nur relativ langsam und im eher kleinräumigen Maßstab, verliehen die neuen technischen Möglichkeiten des aufkommenden Industriezeitalters dieser Entwicklung in den zurückliegenden 150 Jahren eine bis dahin kaum vorstellbare Dynamik.
Nicht mehr nur einzelne Flurstücke, sondern das Gesicht ganzer Landstriche, ja sogar Regionen verwandelte sich seitdem grundlegender und radikaler als noch über viele Jahrhunderte davor. Maßgeblicher Ausgangspunkt für die anthropozentrische Neuordnung der Landschaft war dabei vor allem auch die Regulierung der vielerlorts noch ungezügelten Gewässerläufe, deren Eigendynamik einer weiteren Ausdehnung der Landnutzung zuvor häufig im Wege gestanden hatte. In diesem Zuge wurden auch weite Teile des Niemegebietes erfasst, die von den vielfältigen menschlichen Eingriffen in das gewachsene Naturgefüge somit nicht verschont blieben.

Kannte der Glaube an die Berechenbarkeit, Planbarkeit und Beherrschbarkeit der Naturkräfte bis in die jüngste Gegenwart kaum eine Grenze, offenbarten sich mit der Zeit zunehmend auch die Kehr- und Schattenseiten jenes von menschlicher Selbstüberschätzung geprägten Denkens. Mehr und mehr wird heute deutlich, daß manche vermeintliche zivilisatorische Errungenschaft keineswegs nur uneingeschränkten Nutzen erbracht, sondern – oft mit zeitlicher Verzögerung und/oder an anderer Stelle – im Gegenzug auch einen nicht unerheblichen Preis gefordert hat: Großdimensionierte, maschinengerechte Ackerflächen, Bodenmelioration auf nahezu gesamter Flur und der massive Einsatz synthetischer Pflanzenschutz- und Düngemittel ermöglichten in den zurückliegenden Jahrzehnten zwar ohne Zweifel beachtliche Ertragszuwächse in der Landwirtschaft. Jedoch wurde dieser Fortschritt ebenso teuer erkauft wie der großzügige Ausbau der lokalen Gewerbe-, Siedlungs- und Verkehrsinfrastruktur – vor allem zu Lasten der Natur!
Mit der Intensivierung der Landnutzung gingen nicht nur unersetzliche Biotope, Kleinlebensräume und Landschaftsstrukturen verloren. Nicht wenige Tier- und Pflanzenarten wurden damit auch ihrer existenziellen Basis beraubt, in deren Folge die Vorkommen markanter, lokal einstmals allgegenwärtiger Arten dramatisch schrumpften oder schließlich sogar ganz erloschen.

Auch den Menschen selbst brachte die oft radikale Umgestaltung der Auengebiete nach rein ökonomisch-technokratischen Maximen keineswegs nur Vorteile, wie sich im Laufe der letzten Jahrzehnte in immer mehr Bereichen unseres näheren und weiteren Lebensumfeldes zeigte.
Mag man die spürbare Verminderung des landschaftlichen Erlebnis- und Erholungswertes und die von vielen Mitbürger/innen empfundenen Verluste der lokalen Wohn- und Lebensqualität noch als rein subjektive, monetär schwer taxierbare Befindlichkeitsstörungen abtun, sind die ökonomischen Folgekosten in anderen Bereichen hingegen mittlerweile kaum noch bestreitbar. Insbesondere die Belastungen der Gewässerläufe durch Nähr- und Schadstoffeinträge führten vielerorts zu einer meßbaren Verschlechterung der Wassergüte, die im Extrem hier und dort sogar in sporadischen Fischsterben zum Ausdruck kam – nicht zuletzt auch im Niemegebiet. Mehr und mehr Brunnen auf dem „flachen Land“ fielen für die lokale und regionale Gewinnung von Trinkwasser dauerhaft aus, nachdem das Grundwasser den gesetzlichen Qualitätsnormen nicht mehr genügte, mitunter gar zur Gefahr für die menschliche Gesundheit geworden war. Weitaus gravierender wirken sich die Gewässerverschmutzungen jedoch in den weiter flussabwärts gelegenen Regionen und in den Mündungsgebieten aus, wo sich die Schadstofflasten zahlreicher Zuflüsse natürlicherweise summieren. Weitreichende Aufwendungen erfordert hier u. a. die qualitative Aufbereitung des – großteils aus Uferfiltraten gewonnenen – Trinkwassers, deren Kosten sich in stetig steigenden Wasserpreisen und Abwassergebühren niederschlagen. Trotz aufwendiger Klärung der Abwässer gelangen so über die Flüsse nach wie vor immense Mengen an Nähr- und Schadstoffen in die Meere, wo sie nicht nur die maritimen Ökosysteme belasten, sondern auch beträchtliche Einbußen für die kommerzielle Fischerei verursachen.
Besonders aber die in jüngster Zeit gehäuft aufgetretenen Hochwasserereignisse führten zu der ernüchternden Erkenntnis, dass speziell dieser Risikofaktor durch die zahlreichen vorangegangenen wasserbaulich-technischen Maßnahmen keineswegs gebannt wurde – im Gegenteil.

Gewässernetz der Nieme
Gewässernetz der Nieme

Wenngleich der zunehmende Einfluss des Menschen auch am Gewässernetz der Nieme unübersehbar war, hatte sich dort stellenweise dennoch ein relatives Maß an Natürlichkeit erhalten. Nicht zuletzt die noch naturnahen Landschaftsfragmente gaben in den 80er Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts maßgebliche Anstöße für einen allmählich einsetzenden Umdenkungsprozess, der den Wendepunkt des sich wandelnden Verständnisses und Verhältnisses gegenüber der Umwelt markiert.
Bald schon folgten erste konkrete Initiativen, die Nieme und ihre Nebengewässer wieder in einen naturnäheren, ökologisch nachhaltigen Zustand zurück zu überführen und in diesem Zuge auch manche Fehlentwicklung der allzu technikgläubigen Vergangenheit zu korrigieren. Damit war der Grundstein gelegt für ein langfristiges, auf mehrere Jahrzehnte angelegtes Renaturierungsprogramm, bei dem auch dem NABU Samtgemeinde Dransfeld ein nicht unbedeutender Anteil zukommt.

Blick in die Vergangenheit

Landnutzung im Niemetal um 1785
Landnutzung im Niemetal um 1785

Wie historische Kartendarstellungen, etwa die Kurhannover'sche Landesaufnahme aus der Zeit um 1785 belegen, präsentierte sich das Niemetal zum Ende des 18. Jahrhunderts in weiten Teilen noch in einem Zustand, der sich über die Jahrhunderte zuvor nur unwesentlich verändert hatte: Nach wie vor zeigten die Nieme sowie ihre 11 Nebengewässer einen weitgehend natürlichen Verlauf. Auf weiten Strecken suchte sich das Wasser noch selbst seinen Weg und beeinflusste so die Standortverhältnisse auch der angrenzenden Areale. Mehr oder minder breite Säume feuchten Grünlandes, Weideflächen, aber auch vereinzelte Wäldchen begleiteten die Nieme dabei auf ihrem Weg zur Weser. Der Ackerbau mied diese Bereiche, da hohe Grundwasserstände und das latente Risiko von Überflutungen eine dauerhafte Inkulturnahme verhinderten.
Einzelne Partien deuten sogar auf stärker vernässte Standortverhältnisse hin, die selbst eine Nutzung des Pflanzenaufwuchses als Mähgut oder eine Beweidung fraglich erscheinen lassen. Nicht nur die Signaturen in der Karte, sondern auch manch alter Flurname geben Hinweise auf stellenweise sumpfiges, wohl zum Teil mit Büschen bestandenes „Unland“ (Bruch), das von Fall zu Fall vielleicht gerade noch dem Anspruch genügt haben dürfte, um dort gelegentlich die Schweine, Ziegen, Schafe oder Hausgänse aus den umliegenden Ortschaften grasen zu lassen.

Ein bedeutendes Nahrungsreservoir für das Vieh – Pferde, Rinder, Schweine – boten dagegen die Hutungsflächen des angrenzenden Bramwaldes, dessen damaliges Erscheinungsbild sich von dem heutigen merklich unterschied. Stellenweise oft stark verlichtet, wurden die Bestände weithin von solitären, nicht selten imposanten Hute-Eichen dominiert, unter denen die vom örtlichen Viehhirten gehüteten Weideschweine Eicheln und andere nahrhafte Mast vorfanden.
Kleinere Gehölzarten wie Hainbuche, Esche oder Hasel, die als Unterwuchs zwischen den Alteichen bzw. unter deren Kronenschirm gediehen und partiell eine zweite Baumschicht bildeten, dienten vor allem zur Gewinnung von Bau-, Werk- und Brennholz. In einem zeitlichen Umlauf von 10–40 Jahren parzellenweise „auf den Stock gesetzt“, entstanden so neben den eher locker bestockten, parkartigen Hutewäldern auch dichtere, zweischichtige Mittelwälder, die ebenfalls weite Teile des umliegenden Bramwaldes einnahmen.
Hinzu kamen hier und dort auch spezielle Schneitelbäume, wiederum meist Hainbuchen, die regelmäßig frisches Futterlaub für das Vieh lieferten. Auch manche Kopfweide in der offenen Landschaft dürfte primär diesem Zweck gedient haben, zumal die hier vor Ort vorherrschende Bruchweide (Salix fragilis) – anders als die Korbweide (Salix viminalis) – für die Herstellung von gebräuchlichem Flechtwerk weitgehend ungeeignet ist.

Landnutzung im Niemetal um 1785
Landnutzung im Niemetal um 1785

Nicht zuletzt auf den Feldern selbst wuchs zu einem beträchtlichen Teil Nahrung für das Vieh heran, wie aus alten, lokalen Urkunden überliefert ist. Während Weizen, Roggen und andere Getreidearten in erster Linie für die menschliche Ernährung bestimmt waren, stellten Hafer und Ackerbohnen – vielfach in Mischung angebaut – eine maßgebliche Grundlage für die Aufrechterhaltung tierischer Arbeitskraft dar. Denn nach wie vor basierte die agrarische Erzeugung zum einen auf reiner Handarbeit, zum weitaus größeren Teil aber auf der Leistung von Zugtieren. Dabei kamen nicht nur Gespanne mit Pferden und Ochsen, sondern sogar Kühe zum Einsatz. Beinahe alles, was in der damaligen Feldmark gedieh, wurde daher nach Möglichkeit für die Ernährung der Nutztiere verwertet, die von der örtlichen Bevölkerung gehalten wurden.
Selbst der Aufwuchs auf den einjährigen Ackerbrachen, die – als Resultat der traditionellen Dreifelderwirtschaft – einen nennenswerten Anteil des Pfluglandes belegten, wurde durch eine abschließende Beweidung genutzt. Zugleich sorgten die von den Weidetieren hinterlassenen Ausscheidungen für eine Aufstockung des Nährstoffreservoirs auf den durch den vorherigen Feldfruchtanbau meist stark ausgelaugten Ackerböden. Auf natürliche Weise aufgedüngt, wurden diese im Anschluss an die Brachepause wieder unter den Pflug genommen und erneut mit Getreide eingesät.

Der üppige Wildwuchs auf den Brachflächen, vorwiegend einjährige Ruderalpflanzen, kam jedoch keineswegs nur dem Menschen bzw. seinem Hausvieh zugute. Auch die Natur profitierte im erheblichen Maße von den einjährigen Brachen und den Wiesen- und Weideflächen:
Noch völlig unbedrängt durch chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel fand so nicht nur eine Vielzahl von – mittlerweile meist selten gewordenen oder gar verschwundenen – Ackerwildkräutern optimale Entwicklungs- und Ausbreitungsmöglichkeiten. Mit ihrer bunten, heute oft kaum noch vorstellbaren Vielfalt an Blüten boten diese sowohl den örtlichen Völkern der Honigbiene als auch unzähligen wilden Insekten – z.B. Wildbienen, Hummeln und Schmetterlingen – reichhaltige und abwechslungsreiche Nahrung in Form von Nektar und Blütenstaub.
Aber auch größere Arten fanden seinerzeit im Niemegebiet noch hinreichende Lebensraumpotentiale, wie nicht nur so mancher althergebrachte Flurname, sondern auch diverse schriftliche Quellen zur Flora und Fauna unserer Region dokumentieren:
Wohl waren die großen Wirbeltierarten wie Wisent, Wolf, Luchs, Steinadler oder Biber zum Ende des 18. Jahrhunderts in Südniedersachsen bereits ausgerottet. Eine Vielzahl kleinerer Arten war jedoch nach wie vor präsent, teilweise sogar ein allgegenwärtiger Anblick in der freien Landschaft, so beispielsweise das Rebhuhn, der Kiebitz, der Steinkauz oder die Zauneidechse.
Für die angrenzenden Waldgebiete – Bramwald, Reinhardswald, Kaufunger Wald und Solling – sind bis in das 19. Jahrhundert hinein u.a. Vorkommen des Auerhuhnes und des Birkhuhns, aber auch der Wildkatze und des Uhus überliefert.
In der Weser wurden noch Lachse gefangen, die zur Laichzeit den Fluss hinaufzogen, um auf dem steinigen Grund der Unter- und Mittelläufe der Nebengewässer, darunter mit annehmbarer Wahrscheinlichkeit auch die Nieme, nach erfolgter Paarung schließlich Eier abzulegen. Aber auch die Nieme selbst war aufgrund ihres Reichtums an Bachforellen als Fischgewässer von jeher hochgeschätzt, wenngleich die Fischerei-Rechte über Jahrhunderte alleine den Freiherren von Stockhausen zu Löwenhagen vorbehalten waren.
Nicht nur während des Vogelzuges stellten sich an Weser, Fulda und Werra gerne Fischadler ein, wo sie als vermeintliche Fischräuber allerdings nicht selten dem menschlichen Jagdtrieb zum Opfer fielen, wie manch verstaubtes Stopfpräparat in den lokalen Gaststuben bezeugte. Gleichermaßen wurde in zahlreichen Orten der näheren und weiteren Umgebung noch in nicht unbeträchlichem Umfang dem Fischotter nachgestellt.

Anders als heute war das Verschwinden einer Tierart in der Zeit vor der Industrialisierung in der Regel Resultat direkter menschlicher Verfolgungsmaßnahmen, während die Lebensräume bzw. -grundlagen der betroffenen Arten zu dieser Zeit in vielen Fällen noch vorhanden waren.

Landschaft im Umbruch

Wie nun der Vergleich mit späteren Kartenwerken erkennen läßt, hat sich das Bild der Landschaft im Niemegebiet vor allem in den zurückliegenden 150 Jahren fundamental gewandelt. So findet man auf einer Karte des beginnenden 20. Jahrhunderts die Nieme als auch ihre Nebengewässer bereits zum überwiegenden Teil in einem begradigten Zustand wieder. Markante Windungen und Mäander, die längere Strecken besonders den Ober- und Mittellauf prägten, sind verschwunden. Kleinere Zuflüsse wurden stellenweise verkürzt oder umgeleitet, um zusätzliches Grün- oder sogar Ackerland zu gewinnen.
Die Regulationsmaßnahmen beschränkten sich dabei nicht nur auf die Begradigung weiter Gewässerabschnitte. Zahlreiche Sohlschwellen sowie andere Wasserbauwerke sollten die Fließdynamik der Nieme drosseln und sie auf diese Weise dauerhaft bändigen.

Zugleich wurde die Bewirtschaftung der angrenzenden Fluren immer mehr intensiviert, indem vernäßte Bereiche mittels eines weitläufigen Netzes von Entwässerungsgräben drainiert und dadurch trockengelegt wurden. Durch diese Meliorationsmaßnahmen beschränkten sich die Nutzungsmöglichkeiten nun nicht mehr alleine nur auf Weideviehhaltung und Grüngutnutzung. Mehr und mehr konnte der Ackerbau so bis unmittelbar an die Gewässerläufe ausgedehnt werden, währenddessen im Gegenzug die dort bislang dominierende, überwiegend extensive Grünlandnutzung zurückgedrängt wurde.
Auch in der umliegenden Landschaft veränderte sich das Gesicht des Niemetales nachhaltig: Ganze Waldpartien und -inseln wurden im Rahmen der sog. Verkoppelung gerodet und in neues Ackerland umgewandelt, Waldränder begradigt. Zahlreiche stark verlichtete Waldteile, vor allem aber die alten Hutewälder waren demgegenüber neu aufgeforstet worden, vielerorts mit standortfremden, aber schnellwachsenden Fichten. Ebenso mußten die althergebrachten Mittelwälder mit der Zeit schlagweisen, gleichaltrigen und artenärmeren Hochwäldern weichen. Vielfach verschwanden bereits in dieser ersten Phase der Flurneuordnung auch kleinere, gewässerbegleitende Gehölze oder blieben – wenn überhaupt – nur in Relikten erhalten.

Nicht zuletzt die Anbaumethodik auf den Feldern selbst erfuhr einen tiefgreifenden Wandel. Hatte im Rahmen der über zahllose Generationen praktizierten Dreifelderwirtschaft jeweils ein Drittel des Pfluglandes jährlich brach gelegen, machten die neu aufkommenden Mineral- und Kunstdünger die im Zyklus von drei Jahren eingelegten Brachepausen von nun an entbehrlich. Für eine Vielzahl von Tier- und Pflanzenarten der offenen Kulturlandschaft, die zuvor von den Brachflächen profitiert hatten, ging damit zugleich ein enormes Lebensraumpotential verloren – ein erster massiver Einschnitt in den über Jahrhunderte eingespielten Kreislauf der Agrar-Ökosysteme und der dort etablierten Artengemeinschaften, dem noch weitere folgen sollten.

Trotz der Vielzahl an regulativen Eingriffen in das Landschaftsgefüge und in das Gewässerökosystem gelang es dem Menschen nicht, der Nieme vollständig seinen Willen aufzwingen. Immer häufiger führen sporadische Hochwasserereignisse – so etwa im Herbst 2010 – die herrschenden Fehleinschätzungen im Umgang mit unserer Umwelt auf drastische Weise vor Augen.

Neue Chancen für die Natur

Trotz der Vielzahl an menschlichen Eingriffen in der Vergangenheit hatte das Gewässernetz der Nieme nicht auf ganzer Länge seinen natürlichen Charakter und landschaftlichen Reiz verloren. Aufgrund ihres stellenweise noch erhaltenen Struktur- und Artenreichtums und landschaftlichen Potenzials setzten daher bereits Ende der 80er Jahre erste Bemühungen ein, dem Lauf der Nieme und ihrer Nebengewässer wieder in ein naturnäheres Angesicht zurückzugeben.

Als Akteure traten dabei nicht alleine der NABU Samtgemeinde Dransfeld, sondern auch der Landkreis Göttingen, der Naturpark Münden und der Unterhaltungsverband Münden (UHV) auf. Nach Umsetzung zahlreicher wasserbaulich-technischer Rückbau- und Revitalisierungsmaßnahmen wurden vor allem weite Teile an der unteren Nieme und des umgebenden Bramwaldes unter Naturschutz gestellt. Dieser Schritt war mit vergleichsweise überschaubarem Aufwand umsetzbar, da die Flächen hier überwiegend im öffentlichen Eigentum und somit prinzipiell zur Verfügung standen.

Deutlich schwieriger gestaltet sich der Prozeß am oberen Niemelauf, der schwerpunktmäßig vom NABU Dransfeld bearbeitet und betreut wird. Hier ist die umgebende Landschaft nicht durch Wald, sondern durch landwirtschaftliche Nutzungsformen unterschiedlicher Intensitätsstufen geprägt. Demgemäß liegen die Flächen in der Regel in Händen privater Eigentümer. Ökologisch bedeutsame Areale sind daher nicht ohne Weiteres verfügbar, sondern müssen – sofern überhaupt möglich – erst käuflich bzw. durch Tausch oder Pacht erworben werden.

Folglich kann der Renaturierungsprozeß hier nur in kleinen Schritten vorangehen, zumal die Aufwendungen – bezogen auf die Flächeneinheit – oft deutlich höher liegen als am Unterlauf. Anders als die eingangs genannten öffentlich-rechtlichen Institutionen verfügen wir weder über einen hauptamtlich tätigen Personalstamm noch über einen festen Etat. Jeden Euro, den wir im Nieme-Projekt einsetzen, müssen wir vielmehr erst im Rahmen oft aufwendiger Antragsverfahren bei verschiedensten Drittmittelquellen oder als Spende einwerben.

Allen Erschwernissen zum Trotz ist es dem NABU Dransfeld dennoch gelungen, seit Anfang der 90er Jahre eine nennenswerte Anzahl von gewässernahen Grundstücken an der oberen und mittleren Nieme sowie an einzelnen Zuflüssen, vor allem an der Valenke und der Wesperke in seinen Besitz zu bringen. Acker- und Grünlandflächen in einer Größenordnung von insgesamt rund 12 ha konnten so bis heute wieder in einen naturnäheren Zustand überführt werden, wovon nicht zuletzt manche Art unserer heimischen Tier- und Pflanzenwelt profitieren konnte. Tragendes Fundament der Nieme-Renaturierung ist und bleibt darum der Flächenerwerb.

Zielsetzungen

Erschienen die ersten Ideenskizzen zur ökologischen Revitalisierung des Gewässersystems der Nieme, die in den 80er Jahren aufkamen, vielen noch als vage, wenn nicht gar unerreichbare Utopie, haben die Zielvorstellungen über die Jahre in erheblichem Maße an Kontur gewonnen. Vielmehr sind diese heute als weithin anerkannte Standards anzusehen, die sich in weiten Zügen mit den Zielvorgaben auch anderer Renaturierungskonzepte an Fließgewässern decken. Beschränkte sich der Fokus der Betrachtungen anfänglich im Wesentlichen noch auf die Gewässerläufe selbst und ihre engeren Randzonen, weitete sich der Radius mit fortschreitendem Reifungsgrad des Nieme-Projektes mehr und mehr auch auf die umgebende Landschaft aus. Entsprechend ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension lassen sich für das Nieme-Gebiet heute nachfolgende Aktionsfelder umreißen, die – im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtungsweise – stufenartig aufeinander aufbauen:

Zielsetzungen

Danach können auch die wichtigsten Detailziele entsprechenden Ebenen zugeordnet werden:

A. Zielsetzungen für die Gewässerläufe und ihre Randzonen:

  1. Wiederherstellung der uneingeschränkten Durchgängigkeit der Nieme von den Quellbereichen bis zur Mündung für aquatische und amphibische Organismen
  2. Erhaltung bzw. Wiederherstellung naturnaher Quellbereiche sowie ihrer natürlichen Vegetationszonierung
  3. Wiederherstellung der natürlichen Fließgewässerdynamik auf gesamter Gewässerlänge
  4. Zulassung der natürlichen Gestaltungskräfte und der von ihnen hervorgebrachten Kleinstrukturen (Mäander, Kies- und Sandbänke, Uferabbrüche, Steilkanten, Totholz etc.)
  5. Herstellung eines überregionalen aquatischen Gewässerbiotopverbundes über die Weser
  6. Reduzierung der Nähr- und Schadstoffeinträge von den umliegenden Agrarflächen

Da die ökologische Sanierung eines Gewässers ebenso wie eine zeitgemäße Prävention gegen Hochwasserereignisse ohne Berücksichtigung seiner Wassereinzugs- und potentiellen Überschwemmungsbereiche wenig Sinn macht, ergeben sich auch für die an die Gewässerläufe angrenzenden Auenzonen folgerichtig eigenständige Zielvorgaben.

B. Zielsetzungen für die Auenbereiche:

  1. Erhaltung und Entwicklung der Gehölzstrukturen in der Aue als bestimmende Gliederungselemente des lokalen Landschaftsbildes
  2. Etablierung bewirtschaftungsfreier Uferrandstreifen von mind. 10 m Breite (Pufferzonen)
  3. Umwandlung nährstoffreicher Fettwiesen in extensiv genutzte Talauen-Weiden
  4. Entwicklung von Feuchtlebensräumen und artgerechten Kleinhabitaten
  5. Entwicklung der Vegetation am Gewässer und der Aue aus standortheimischen Arten
  6. Naturnahe Bewirtschaftung der an die Quellbereiche angrenzenden Wirtschaftswälder

Basierend auf der Tatsache, dass Gewässerläufen – vor allem nach ihrer ökologischen Wiederbelebung und bei entsprechender Länge – eine bedeutende Funktion als Verbindungskorridor zukommen kann, drängt sich der Gedanke geradezu auf, diese als tragendes Grundgerüst für eine Wiedervernetzung unserer vielerorts verarmten Kulturlandschaften gezielt auszubauen. Vor dem Hintergrund des bislang ungebremsten Artenrückgangs erscheint es daher folgerichtig, die Zielsetzungen des Nieme-Projektes heute deutlich weiter zu fassen und diese den aktuellen bzw. zukünftigen Erfordernissen anzupassen. Auch andere Hintergründe sprechen für eine Erweiterung des Konzeptes, womit sich jedoch auch neue Herausforderungen ergeben:

C. Erweiterte bzw. biotopübergreifende Zielsetzungen:

  1. Schaffung eines landschaftsübergreifenden, nicht alleine auf das Gewässersystem der Nieme beschränkten Biotopverbundes (Grünbrücken, Wildtierkorridore, Saumbiotope)
  2. Umsetzung von Maßnahmen des lokalen Klimaschutzes (CO2-Speicherung)
  3. Entwicklung und Etablierung integrierter und ökologisch nachhaltiger Landnutzungskonzepte

Zu guter Letzt verbindet sich mit dem Nieme-Projekt die Hoffnung, dass dessen Wahrnehmung und Wirkung nicht alleine auf den engeren Radius der Region um Göttingen beschränkt bleibt. Im Hinblick auf die nun schon viele Jahre währende Kontinuität und die durchaus vorzeigbaren Erfolge des Projektes kommt diesem sehr wohl ein Modellcharakter zu, dessen Leuchtkraft vor dem Hintergrund der Anforderungen und Verpflichtungen der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) erheblich zugenommen hat und weiter zunehmen wird.
Ob und inwieweit das Nieme-Projekt zukünftig als Vorbild auch für andere Fließgewässer dienen kann, entscheidet sich letztendlich am guten Willen aller Akteure und Verantwortungsträger, aber auch über das Engagement unmittelbar vor Ort.

Bisherige Maßnahmen

Maßgebliches Initial für unseren Einstieg in das Nieme-Projekt im Jahr 1988 war die Option auf eine hohe Bußgeldzuwendung. Auf dieser Basis konnten so erste Grundstücke an der Nieme sowie einzelnen ihrer Nebengewässer erworben werden. Mit den Jahren kamen nach und nach weitere Areale hinzu, die sich stellenweise mittlerweile sogar zu größeren, weitgehend kompakten Biotopkomplexen zusammenfügen.
Der Besitz eigener Grundstücke und das damit verbundene Hoheitsrecht stellt nicht nur die entscheidende Grundlage dafür dar, auch weiterreichende Zielvorstellungen des Naturschutzes realisieren zu können. Zugleich ergibt sich damit eine relative Gewähr, daß einmal umgesetzte Maßnahmen zum Nutzen unserer Flora und Fauna auch dauerhaft Bestand haben.

Biotopverbund Niemetal – Ausblick

Foto: Dr. Jürgen Endres

Vieles konnte im Laufe der Jahre im Niemegebiet erreicht werden, doch noch mehr ist zu tun. Denn während der Naturschutz an einer Stelle Acker in Grünland zurückverwandelt, Hecken und Bäume pflanzt und Biotope pflegt, werden an anderer Stelle, nicht selten in nächster Nachbarschaft, Wiesen- und Weideland umgebrochen, Feldgehölze gerodet und Habitate zerstört. Vergleichbares ist auch im Bereich des Artenschutzes zu beobachten: Konnten auf der einen Seite lange verschollene Arten wie der Schwarzstorch, der Eisvogel oder die Wildkatze mittlerweile vor Ort wieder Fuß fassen oder ihre Bestände gar konsolidieren, sind die Vorkommen einst verbreiteter Arten, z.B. von Rebhuhn und Steinkauz, zwischenzeitlich erloschen. Zahlreiche weitere sind in ihrem Fortbestand gefährdet.

Allen bisherigen Erfolgen zum Trotz besteht somit keinerlei Anlass, in unseren Bemühungen nachzulassen. Die Anforderungen eines flächendeckenden, auch über den lokalen Bereich hinaus wirksamen Biotopverbundes gebieten vielmehr, den bisherigen räumlichen Wirkungsradius zu erweitern. Damit richtet sich unser Augenmerk nunmehr auch auf jene Lebensräume in nächster sowie in weiterer Nachbarschaft, die in einem räumlich-funktionellen Kontext zum Niemetal stehen. Besonders hervorzuheben sind hier die zahlreichen kleineren als auch größeren, zunehmend aber isolierten Waldinseln im Gebiet des Naturparks Münden, die wiederum in einem regional übergreifenden Zusammenhang mit den weiträumigen, den Landkreis Göttingen umrahmenden Waldgebieten – Solling, Bramwald, Reinhardswald, Kaufunger Wald und Harz – zu sehen sind. Diese und andere ökologisch bedeutsamen Biotope im weiteren Umkreis, darunter ausgewiesene Naturschutz- und FFH-Gebiete, gilt es langfristig über ein zusammenhängendes Netz von Grünkorridoren und Trittstein-Biotopen wirksam miteinander zu verbinden.

Obgleich sich das Gewässernetz der Nieme in idealer Weise als Grundgerüst für ein weit verzweigtes, biotopverbindendes Korridor- und Trittsteinsystem anbietet, reicht dieses dennoch nicht weit genug, um alleine nur die nächstgelegenen Naturschutzflächen im Umkreis miteinander zu verknüpfen. Die ausschließliche Fixierung auf gewässernahe Areale hätte somit zur Konsequenz, dass das von uns angestrebte Biotopnetz an vielen Stellen lückenhaft bliebe.

In Folge dieser Neuausrichtung des Nieme-Projektes bemüht sich der NABU Dransfeld daher nicht mehr nur darum, Grundstücke in den unmittelbaren Randbereichen des Gewässernetzes der Nieme durch Ankauf, Anpacht oder Schenkung zu erwerben und ökologisch zu optimieren. Ins Blickfeld rücken nun auch Flächen im weiteren Umfeld, die sich nach ihrer Größe, Lage und ihrem Zuschnitt als mögliche Bausteine eines weiträumig angelegten Verbundsystems eignen. Vorzugsweise sind es Klein- und Splittergrundstücke von minderer Boden- und Ertragsqualität. Größere Ackerflächen, insbesondere solche mit höherem Ertragswert, kommen für uns in der Regel nicht oder allenfalls als Dispositionsobjekte für einen Grundstückstausch in Betracht. Zum einen liegt hier das durchschnittliche Preisniveau meist deutlich über unseren finanziellen Möglichkeiten. Zum anderen bemühen wir uns darum, Flächenkonkurrenzen zur Landwirtschaft zu vermeiden.

Weiteren Auftrieb für unser Biotopverbund-Projekt im Niemetal erhoffen wir uns mittelfristig aus den Verpflichtungen, die dem Bundesland Niedersachsen als Folge verschiedener rechtsverbindlicher Vorgaben der EU erwachsen. Perspektiven eröffnet hierbei u.a. die Europäische Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG (WRRL) und das auf der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie 92/43/EWG (FFH-Richtlinie) basierende Schutzgebietsnetz Natura 2000, das mit der letzten Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) im Jahr 2010 endlich auch in nationales Recht umgesetzt wurde. Wenngleich sich dort an mehreren Stellen – etwa im § 3 BNatSchG (Biotopverbund) – sehr konkrete Vorgaben und damit auch zahlreiche potentielle Schnittstellen mit unserem Nieme-Projekt finden, sind die politischen und administrativen Umsetzungs- und Vollzugsdefizite vor Ort nach wie vor unübersehbar.

Es bleibt deshalb abzuwarten, ob und wann sich die gesellschaftlich-politische Großwetterlage einmal soweit verbessert, dass den Absichtserklärungen auch Taten folgen, die unserem Biotopverbund-Projekt im Niemetal zu einem großen Sprung nach vorne verhelfen.